Modell Amtshaus, Nordfassade m. Ständeranomalie Erdgeschoss rechts
Als es im August 2018, nach schier unendlicher Zeit des
Planens, Vorbereitens und Wartens endlich hieß: „Die Handwerker rücken an!“,
dachte und hoffte Jeder der Beteiligten, dass sich ab sofort Alles zum Guten
wenden, und die Sanierung des Amts- bzw. Alten Schulhauses nunmehr planmäßig
vonstattengehen würde.
Es war eine Freude, den Zimmermannsgesellen zuzusehen, mit
welcher Akribie, aber auch mit welchem Tempo das Gebälk im Erdgeschoss
freigelegt, morsche Balkenteile entfernt und durch passgenaue Stücke ersetzt
wurden. Angefangen an der zuletzt geschieferten, der Kirche zugewandten Giebelseite, über die
komplette Ostfassade mit dem Vordereingang und dem Kriechkeller dahinter, bis
etwa zu der Mitte der nach Norden ausgerichteten Giebelseite.
Unterstützt durch engagierte Anwohner/innen, die, erfreut
über die Baufortschritte und den offensichtlichen Arbeitseifer der jungen
Zimmerleute, die Selbigen mit selbstgebackenem Kuchen und sonstigen Leckereien
bei bester Laune hielten, gingen die Arbeiten zügig voran.
Wir schrieben mittlerweile Mitte Oktober und es war
abzusehen, dass die Zimmerarbeiten im Erdgeschoss bis zum Jahresende
abgeschlossen sein würden.
Da traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachricht ein,
der Architekt hätte was entdeckt!
Und in der Tat, im Ständerwerk des Erdgeschosses der
nördlichen Giebelseite in Richtung Nebengebäude (Spritzenhaus) trat eine
Anomalie zutage, die zwar schon seit Menschengedenken offen erkennbar war, über
die sich aber nie Jemand Gedanken gemacht, oder sich gar darüber gewundert
hätte.
Auf dem Foto des Modells mit Blick auf den der Kirche
abgewandten Nordgiebel gut erkennbar: Links im Erdgeschoss, wie übrigens auch
beiderseits im Obergeschoß, befindet sich eine sogenannte „Mannfigur“, eine
Querversteifung in Form einer „Fußstrebe“,
auch „Schwertung“ oder „Band“ genannt, hier mit zusätzlich kreuzenden „Brust-,
und Kopfriegeln“.
Auf der rechten Seite hingegen wurde, aus zunächst
unerfindlichen Gründen, anstatt einer Strebe ein zusätzlicher „Pfosten“ oder „Ständer“
direkt neben den „Eckständer“ gesetzt, auch dieser mit „Brust- und Kopfriegel“
gekreuzt.
Nun macht sich ein Architekt, nach so einer Entdeckung,
natürlich und folgerichtig Gedanken über den Grund einer solch ungewöhnlichen
Anordnung des Gebälks. Die Komplettentfernung der Gefache, die im Übrigen nicht
aus einem eigentlich zu erwartendem Weiden-Lehmgeflecht sondern aus gebranntem
Stein bestanden, förderte dann eine kleine Sensation zu Tage.
Der eigentlich nicht dahin gehörende Ständer diente,
irgendwann in den vergangenen 236 Jahren seit Bestehen dieses Hauses, als
Pfosten einer Tür oder eines Tors! Kurz darauf fand man auch die linksseitige
Anschlagstelle, und nun stand fest: Ja, es war ein zweiflügeliges Tor, dass da
irgendwann einmal verbaut gewesen ist.
Die nun, insbesondere bei Architekten aufflammende Euphorie, (die man in der Form von Ihm bisher
gar nicht kannte…) ließ ihn zu Hochform auflaufen.
In einer Rundmail an Bauherren, interessierte Bürger und
Presse bot er bereits am folgenden Tag an, eine vollständig neue Planung zu
erstellen und hatte sogar schon eine Zeichnung mit eingebautem Scheunentor in
Petto.
Das – richtigerweise – sofort verständigte Denkmalamt hielt
aber dann doch erst mal einen Dämpfer bereit:
Da sich gegenwärtig weder der Zeitpunkt der Entstehung des
unzweifelhaft vorhanden gewesenen Tores noch die Dauer und der Grund seiner
Existenz nachweisen lassen, sieht das Denkmalamt keine Notwendigkeit für eine,
wie auch immer gestaltete, Berücksichtigung bei der Restaurierung des
Amtshauses!
Da sich auch die Stadt Niddatal als Bauherrin gegen eine
Umplanung mit Tor ausgesprochen hatte, wäre die Sache damit eigentlich vom
Tisch gewesen. Aber entweder sind die Stellungnahmen des Denkmalamtes und der
Bauherrin nicht zum Architekten vorgedrungen, oder er hat sie im Überschwang
der Gefühle ausgeblendet.
In der darauffolgenden umfangreichen Korrespondenz verwies
er nämlich immer auf die von den Denkmalschützern festgestellte Erfordernis,
die Existenz des Tores in die Gestaltung des Hauses einzubeziehen.
Darüber hinaus ließ er, unbeauftragt und ohne Wissen der
Bauherrin einen Bauhistoriker aus Wiesbaden kommen, um das corpus delicti
kostenpflichtig zu begutachten, der letztlich aber auch nur Vermutungen
anstellen konnte.
Sowohl von Seiten der Stadtverwaltung, als auch von der
Dorfentwicklung Kaichen kamen Einwände, die sich auf die spätere Nutzung des
dahinterliegenden Raumes bezogen und diese Nutzung und die Konformität mit der staatlichen
Förderung aufgrund des feststehenden Nutzungskonzeptes in Frage stellten.
Diese Einwände, wie auch vermehrt aufkeimende
Unmutsäußerungen seitens der Kaicher Bevölkerung - Niemand kennt ein Tor, Niemand
braucht ein Tor und Niemand will ein Tor - veranlassten schließlich den Architekten, erneut
die Presse zu Hilfe zu nehmen.
Am 5. November erschien ein ganzseitiger Artikel in der
„Wetterauer Zeitung“, in der literarischen Form eines Interviews, in dem er
noch einmal die absolute Notwendigkeit, das Haus „in den Originalzustand zu
versetzen“ betont. Funde, wie die hier angesprochene Entdeckung machte er im
Übrigen dafür verantwortlich, dass sich die bei der Schadenskartierung
ermittelten Baukosten von ca. 750 000 € auf mittlerweile 1 Mio. € erhöhen
würden. Das aber, so der Architekt, sei nichts Besonderes, sondern bei
historischen oder denkmalgeschützten Häusern durchaus üblich.
Die WZ ihrerseits, wohl auch hier eine Sensation witternd,
startete umgehend eine Umfrage mit der Schlagzeile „Wer kennt das rätselhafte
Tor?“, die aber ein erstaunlich mageres Echo auslöste.
Am 10. November erschienen in der Rubrik „Notizen aus der
Provinz“ zwei z. T. abenteuerliche Deutungen über Sinn und Zweck
des Tores. Von Folterwerkzeugen, Richtbeilen u.a.m. war dort die Rede, und
Anhänger von Mittelalter-Epen kamen dabei wohl voll auf ihre Kosten.
Nachdem ja auch schon der Architekt Amtmänner, Schultheiße ,
Oberlehrer und Freiwillige Feuerwehrmänner ins Spiel gebracht hatte, ist es nun
wohl an der Zeit, die historisch belegbaren Sachverhalte zur Klärung heran zu
ziehen, um sich der möglichen Wahrheit nähern zu können:
Das Entstehungsjahr des Amtshauses ist uns mit 1782 bekannt.
Die letzte überlieferte Hinrichtung einer Kindsmörderin fand
1755 „durch Enthauptung auf dem Richtbocke“ statt, also in einer Zeit vor der
Entstehung des Amtshauses. Das geschah mit dem Schwert, welches der
Scharfrichter, er kam aus Groß Karben, mit sich führte und im Anschluss an
seine „Verrichtung“ auch wieder mitnahm. Aber auch die Gerichtsverhandlungen
wurden zu der Zeit schon lange nicht mehr unter freiem Himmel abgehalten,
sondern in den vermutlich trockenen Räumen der Burg in Friedberg, ebenso wie
die bestimmt noch durchgeführten Folterverhöre.
Somit wäre die Annahme, hinter dem „Scheunentor“ des Amtshauses wäre eine Art Waffen- und
Folterinstrumentenarsenal zu vermuten, eindeutig widerlegt!
Die Art und Weise, wie die eigentlich nicht passenden
Ständer und Riegel verbaut waren, lassen sehr eindeutig auf einen späteren
Umbau schließen, so dass angenommen werden muss, dass sich ursprünglich eine
ebensolche „Mannfigur“ auf der rechten Seite der Nordfassade befunden hat, wie
auf der Linken noch heute.
Wir wissen, dass sich seit etwa 1830 eine zunächst
einklassige Schule in dem Gebäude befand, aufgrund der Tatsache, dass sich das
Freigericht mit der Annektierung durch
das Großherzogtum Hessen-Darmstadt seit 1806 erledigt hatte und ein
Amtshaus in der gewesenen Form nicht
mehr vonnöten war. Um 1840 wurde dann das neue Rathaus schräg gegenüber
bezogen, und man richtete neben der nun zweiklassigen Schule auch eine
Hauptlehrerwohnung im Obergeschoss ein.
Die Schule befand sich noch bis 1902 in dem Gebäude.
Es gibt meines Wissens heute niemanden mehr, der diese
Schule besucht hat.
Die Frage der WZ nach Augenzeugen, die das Tor noch gekannt
haben erübrigt sich somit. Selbst die
Möglichkeit, dass ein heute 80jähriger vom Hörensagen aus Erzählungen seiner
Großeltern etwas beitragen könnte, ist eigentlich ausgeschlossen. Mein
Großvater, der 1890 geboren wurde und immerhin noch 6 Jahre in diese Alte
Schule ging, hat niemals dieses Tor erwähnt; und er hat gerne und viel erzählt!
Bekannt ist außerdem, und auch mit Bildmaterial zu beweisen,
dass sich in Zeiten der Schule direkt vor der Nordfassade ein mit Staketen
umzäunter Gemüsegarten befand, durch den man weder ein- noch ausfahren hätte
können.
Auch der Hinweis auf einen Feuerwehrunterstand entbehrt der
Grundlage: Die derzeitige Freiwillige Feuerwehr besteht erst seit 1951. Sie
nutzte bis vor einigen Jahren den kleinen Raum unterhalb des Schlauchturms im
sogenannten Alten Spritzenhaus zum Lagern von „Krusch“.
Die ersten organisierten Feuerwehren bildeten sich in
Oberhessen seit etwa 1850, wobei Kaichen mit Sicherheit nicht zu den ersten
gehörte. Zu dieser Zeit aber war das neue Rathaus, Ecke
Brunnenstrasse-Weingartenstraße schon längst mit einem im Erdgeschoss hinter dem „Stromerstübchen“
liegenden Raum in Betrieb, der sowohl den alten hölzernen Spritzenwagen als
auch später das erste LF8, einen umgebauten Opel Blitz zu beherbergen in der
Lage war.
Diese Daten lassen eigentlich nur einen Schluss zu:
Das unzweifelhaft
vorhanden gewesene Tor war etwa 1811 bis 1830, also in der Zeit als lediglich
die örtliche Verwaltung mit herrschaftlichem Schultheiss , dem oder den
Jahresbürgemeister(n) und dem Büttel, also dem Dorfpolizisten hier tätig war,
in dieser Wand verbaut und verbarg hinter sich in der Tat höchstwahrscheinlich die Remise für den Einspänner des
Schultheißen.
Bereits 1830, spätestens aber 1840 war das wieder vorbei,
denn da wurde der dahinter liegende Raum als Klassenzimmer benötigt und die bis
vor kurzem noch in Natura zu bewundernde ungewöhnliche Fachwerkanordnung auf
der Nordgiebelseite „verbrochen“.
Sollten nun diese allerhöchstens 19 Jahre der Existenz dieses
Tores in der immerhin 236 jährigen Geschichte des Hauses Grund genug sein, die
an und für sich schmucke Fassade des Alten Schulhauses mit einem finsteren
Scheunentor zu verunstalten?
Selbst wenn sich dahinter eine in gleicher Form und Größe
ausgebildete Glaswand mit Tür befindet, sollen künftige Besucher und Gäste auf
ein Scheunentor hinter Glas schauen, oder sollen Sie bei geöffneten Torflügeln
wie im Schaufenster sitzen?
Ein weiteres Problem ergäbe sich für den barrierefreien Zugang zum Erdgeschoss, also dem öffentlich
nutzbaren Bereich.
Eine rollstuhlgerechte Rampe darf nach den gängigen Bestimmungen
eine gewisse Steigung nicht überschreiten. Wenn nun an dieser Stelle , also am
Tor und nicht wie ursprünglich geplant an der Hofseite des Hauses die Rampe
erstellt würde, müsste nach Ansicht des Architekten ein Teil des
Innenraumbodens abgesenkt werden und dann, innerhalb des Raumes ein weitere
Rampe entstehen, die dann in den Flur und die übrigen Räume des Erdgeschosses
führen soll.
Spätestens hier war dann der Punkt erreicht, an dem der
Magistrat die Notbremse ziehen musste, was er denn auch tat.
Stand der Dinge ist jetzt: Die Sanierung verläuft nach dem
ursprünglich geplanten Schema weiter, ohne Tor und mit einer einteiligen Rampe,
bzw. Niveauerhöhung mit barrierefreiem Zugang auf der Hofseite.
Ergebnis der ganzen Diskussion allerdings ist, dass aufgrund
der zeitweise unklaren Planungsziele die bis dahin hervorragend arbeitenden
Zimmerleute die Arbeit vorübergehend einstellen und ihre Zelte in Kaichen
abbrechen mussten. Die hierdurch entstandenen Verzögerungen im Baufortschritt
könnten unter Umständen zu Konsequenzen bei der Zuteilung der Fördergelder
führen.
Welchen Zweck das Tor in der Vergangenheit auch immer
erfüllt haben mag, in der Gegenwart ist die Diskussion vor allem eins: Ein
Eigentor!
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